Savoir-vivre : Berlin, je t’aime
Sie lieben die Zwanglosigkeit, den Zen-Rhythmus der öffentlichen Verkehrsmittel, das samtweiche Leben. Junge Franzosen haben Berlin zu ihrer Hauptstadt erklärt.
Patrick Suel glaubt an den Geist der Städte. Und in Berlin lebt ein guter Geist. Das spürt er, wenn er auf den Türstufen des Zadig steht und sein Blick die Linienstraße entlangschweift. Im Herbst wird er hier ein repas de quartier citoyen veranstalten, ein »Kiezpicknick«, um den vierten Geburtstag der französischen Buchhandlung zu feiern, die er mit seiner Frau Myriam gleich hinter der Synagoge in der Oranienburger Straße aufgebaut hat. In einem Viertel, in dem es Tag und Nacht von Menschen wimmelt. Die Nachbarn werden mitten auf der Straße an langen Holztischen sitzen. Jeder wird etwas zu essen mitbringen. »In Berlin ist das Leben samtweich«, sagt Myriam Suel, während sie versucht, ihr kleines Kind zu bändigen. Ihre Wohnung liegt direkt über dem Geschäft. Die Kita ist nur ein paar Schritte entfernt. In der Buchhandlung stehen Sessel für Kunden, die sich in ein Buch versenken wollen. Myriam Suel weiß nicht, warum viele Deutsche ihre Hauptstadt nicht mögen. Sie träumen von einer Metropole, die Paris oder New York ähnelt, aber haben Angst vor Berlin.
Für viele Deutsche gleicht Berlin einem Moloch, unkontrollierbar, von aggressiven Proleten bevölkert. Ein urbanes Monster, ohne eine Spur von Eleganz, dafür aber von Problemen zerfressen: Armut, Kriminalität, Korruption, Heroindealer auf dem Schulhof, Kampfhunde in den U-Bahn-Unterführungen, eine Russenmafia, für die nur das Blutrecht gilt.

Die Franzosen jedoch bringt Berlin zum Träumen. Seit easyJet die einst horrenden Preise für einen Flug Paris–Berlin und zurück gekippt hat, haben wir eine Invasion. 230.000 französische Touristen besuchten vergangenes Jahr die Stadt, das waren gut 17 Prozent mehr als 2005. Patrick und Myriam Suel sehen sie jeden Tag. Sie kommen in die Buchhandlung, um die aktualisierte Ausgabe eines der zahlreichen französischsprachigen Berlinführer zu kaufen. Sie sitzen zwischen den Stelen des Holocaust-Denkmals und an den Mauerresten. Auf den verschlissenen Sesseln der Kellerbars in Friedrichshain und im Visite ma tente in Mitte. Die Patrons Pierre, Frédéric und Alban servieren Pastis, Orangina, Rotwein und elsässisches Kronenbourg-Bier vom Fass. Letztes Jahr, während der Weltmeisterschaft, glaubte man sich dort nach Paris versetzt. Hochgradig erregte Franzosen hatten auch die Gehwege belegt. Nach Zidanes Kopfstoß gellte ein gewaltiger Schrei durch die Straßen.
Was fasziniert die Franzosen an dieser Stadt, die weder die Schönheit von Rom noch die Majestät von London besitzt?
»Berlin ist das genaue Gegenteil von allem, was die Franzosen an Deutschland beängstigend oder langweilig finden«, glaubt Patrick Suel. Niemals kämen sie auf die Idee, ein Wochenende in München oder Hamburg zu verbringen, ganz zu schweigen von Düsseldorf oder Hannover. München ist für viele Franzosen nur das Oktoberfest, das schwere, teutonische Deutschland. Hamburg und Düsseldorf: Wirtschaftskraft ohne Charme. Ganz anders Berlin: weder hübsch noch wohlhabend, aber dermaßen vital. Außerdem ist es eine der günstigsten Städte der Europäischen Union. Berlins große Chance, sagen viele, liegt darin, dass es eine einzige Wirtschaftskatastrophe ist. Die Franzosen fürchten sich vor den ausländischen Investoren, der Geschäftswelt, der Normalisierung.
»Du tippst irgendwo auf den U-Bahn-Plan, und schon findest du etwas Interessantes. In Berlin geht der Punk ab!« Anthony Malka ist 25 Jahre alt. Er hat sich während der Weltmeisterschaft in die Stadt verliebt und kam Anfang März aus Reims, um hierzubleiben, ohne Arbeitsvertrag, ohne Wohnung, ohne konkrete Pläne. Jetzt sitzt er im Vorzimmer des französischen Konsulats und hofft, dass die für Arbeit und Ausbildung zuständige Mitarbeiterin ihm bei der Suche nach einem kleinen Job hilft, der ihm Zeit für andere Projekte lässt. Er will Musik machen, Jazz und experimentellen Funk. Und er hofft, dass er mit seiner Band irgendwann ins Profilager wechseln kann. »In Paris«, sagt er, »sind alle Claims schon abgesteckt. Die Welt der Musik ist eingegrenzt und geschlossen.« Berlin hingegen gebe jedem eine Chance.
»Diese jungen Leute sind oft ein wenig naiv«, sagt der französische Konsul Bernard Bourges. »Manche sprechen kein Wort Deutsch und glauben, sie reisen ins Schlaraffenland.« Ein Drittel der im Konsulat verzeichneten Landsleute ist jünger als 18 Jahre. Mehr als zwei Drittel sind noch keine 40. Zu Hause gibt es eine hohe Jugendarbeitslosigkeit. Darum versuchen sie ihr Glück in Berlin. »Diese Stadt übt eine enorme Faszination aus«, sagt Bourges. Nach der polnischen Gemeinde und vor der türkischen wächst die Gruppe der Franzosen am schnellsten. Etwa 10.000 haben in Berlin einen festen Wohnsitz, und alle vergleichen ihre Adoptivstadt ständig mit ihrer Hauptstadt. Nicht zum Vorteil von Paris!
Myriam Suel lacht, wenn Deutsche sie fragen: »Warum leben Sie nicht dort, in der Stadt der Lichter?« Sie ärgert sich sogar über das Parisklischee in den Köpfen der Deutschen: ein kleines urbanes Paradies, von glamourösen Boulevards durchzogen wie im Film Die wunderbare Welt der Amélie. Myriam Suel erzählt ihnen dann gern von ihrer 40-Quadratmeter-Wohnung und dem Stress ihres früheren Pariser Lebens, von den hohen Preisen, den überfüllten öffentlichen Verkehrsmitteln, von den Zelten der Obdachlosen am Kanal Saint Martin und Trottoirs, so eng und so voll, dass man keinen Kinderwagen schieben kann, von den Staus auf dem Péripherique. Im Vergleich dazu führt sie in Berlin ein Landleben. Mit der SBahn vom Potsdamer Platz ist sie in zehn Minuten an einem See, Spielplätze gibt es überall.
Auch Régis Présent-Griot findet hier eine Lebensqualität, die ihm bisher fremd war. »In Berlin kann man mit dem Fahrrad in die Oper fahren, man kann mit einem Wanderrucksack herumlaufen, ohne für einen Provinzler gehalten zu werden.« Mit nackten Füßen und einem Dreitagebart empfängt er seine Besucher in seinem chaotischen Büro neben dem Wasserturm, diesem mächtigen runden Backsteingebäude in Prenzlauer Berg. Er raucht ostdeutsche Zigaretten, Marke Cabinet. Auf seiner Hand ist noch der Stempel des Clubs zu sehen, in dem er gestern den Abend verbracht hat. Der 36-jährige Provenzale wirkt wie der Prototyp des »Bobo«, des bourgeois bohème , genau die Klientel, die sich für Berlin begeistert.
AUS : http://www.zeit.de/2007/21/Berlin-Franzosen